Gesa Lampe in: Eppendorfer 05/2016
Inwieweit gefährden frei zugängliche (Hardcore-) Sexfilme Jugendliche? Experten schlagen Alarm – und streiten. Unter anderem darüber, ob Pornos sexuelle Gewalt befördern.
Sie sind kostenlos und rund um die Uhr verfügbar: Schon Kinder haben über Smartphones oder PCs Zugang zu (Hardcore-) Pornos. Inwieweit sie dies beeinflusst und ob es einen Zusammenhang zwischen Pornografie und Gewalt gibt, ist umstritten. Derweil gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Jugendliche anfälliger für die Entwicklung von Suchtverhalten sind, da sich das pubertierende Hirn in dieser Phase „im Umbauprozess“ befindet. Dass es Pornosucht gibt, ist wissenschaftlich nicht ausreichend bewiesen, es gilt nicht als Erkrankung. Aber offenbar lassen sich immer mehr Betroffene helfen. Erkundungsbericht über ein gesundheitlich und gesellschaftlich beunruhigendes und bedrohliches Phänomen.
Weltweit schaut niemand mehr Pornos als die Deutschen: Über zwölf Prozent aller Seitenaufrufe betrafen im Juni 2013 pornografisches Material. Die Bundesrepublik gehört zu den größten Pornomärkten der Welt. Selbst Kinder und Jugendliche haben heute über ihre Smartphones Zugriff auf entsprechende Filme und Bilder. Das Verbot des Zugänglichmachens von pornografischem Material an unter 18- Jährige nach Paragraf 184 StGB erscheint angesichts dieser Realität wie ein zahnloser Wolf. Wie wirkt sich die allgegenwärtige Pornografie auf die Menschen und ihre Sexualität aus? Wächst eine sexuell verrohte Generation heran? Diese Themen sind heiß umstritten. Während die einen Experten Entwarnung geben, sehen andere einen Zusammenhang zwischen Pornografie und sexualisierter Gewalt. Offenbar leiden manche Menschen auch unter einer regelrechten Sucht nach Pornos. Die Internetpornografiesucht ist allerdings bislang keine anerkannte Erkrankung. Dennoch lassen sich offenbar immer mehr Betroffene von Therapeuten helfen.
Der Psychotherapeut Dr. Kornelius Roth aus Bad Herrenalb hat sich sogar auf Pornosucht spezialisiert. In der Ärztezeitung vom 19. Februar 2016 berichtete er von den Problemen der Betroffenen. Sie reichten von veränderten sozialen Beziehungen, finanziellen und gesundheitlichen Einbrüchen bis hin zu Konflikten mit dem Gesetz. Das Alter, in dem die Betroffenen Hilfe suchten, sei im Laufe der Jahre immer weiter gesunken, viele seien erst Anfang 20. Er gehe zudem von einer steigenden Anzahl von Pornosüchtigen aus.
Selbst die Domina und Autorin Karolina Leppert sieht Auswirkungen übermäßigen Pornokonsums: In der Talkshow „3nach9“ sprach sie am 18. März über die durch Internetpornos „versauten Manieren“ vieler Männer. Für den Konsum gebe es keine Hemmschwelle mehr: Schon jeder 12-Jährige könne sich heute auf dem Smartphone den ganzen Tag lang Hardcore-Pornos angucken. Klassisch tätige Prostituierte hätten große Schwierigkeiten mit den unrealistischen Erwartungen unhöflicher und selbstherrlicher Männer. Gemeinsam mit einer Kollegin schrieb Leppert das Buch „Männermanieren – Standpauke aus dem Rotlicht“.
In Hannover widmet sich die Mediensucht-Fachstelle Return der Pornosucht – mit Therapien, Beratungen für Betroffene, Partner und Eltern, Gruppen- und Fortbildungsangeboten sowie dem Pornografie-Präventions-Fachbuch „Fit for Love?“. Diplom-Pädagoge Eberhard Freitag und seine Frau, die Diplom-Psychologin Tabea Freitag, leiten die Fachstelle. Seit der Gründung im Jahr 2008 widmet sich Return Computerspiel- und Pornosüchtigen. Rund 200 Betroffene von Pornosucht hat Return bisher betreut – 50 allein im Jahr 2015. Im Gespräch mit dem EPPENDORFER betonte die Autorin und Trau- matherapeutin Freitag, es bestehe ein klarer Zusammenhang zwischen Pornografie und sexueller Gewalt – insbesondere, wenn bereits in jungen Jahren konsumiert werde. Dies belege etwa die Studie „Pornography, Sexual Coercion and Abuse and Sexting in Young People’s Intimate Relationships: A European Study“ aus dem Jahr 2015 (http://euro- pepmc.org/abstract/med/26951609).
In ihrer Praxis ist Tabea Freitag bereits 2005 mit sexuellem Missbrauch als Folge von Pornokonsum konfrontiert worden: „Brüder haben pornografische Szenen an ihren Schwestern nachgespielt – selbst in empathischen, guten Familienkontexten.“ Mit ihrem Fachbuch möchte Freitag vor allem aufklären. Viele Teenager schauten Pornos, bevor sie eigene sexuelle Erfahrungen machen. Mangels anderer Vorbilder glaubten sie, das sei normaler Sex. Der durchschnittliche Erstkonsum liege bei elf bis 13 Jahren. Einer Studie aus dem Jahr 2011 zufolge hätten 94 Prozent der 13-jährigen Jungen und 50 Prozent der gleichaltrigen Mädchen bereits Pornografie im Internet gesehen. Gemäß Studien von 2008 schauten sich ein Fünftel der männlichen Jugendlichen täglich Pornografie an, zwei Drittel mindestens einmal pro Woche. Angesichts der immer leichteren Verfügbarkeit via Smartphone sei heute von noch höheren Anteilen auszugehen. Mädchen schauten im Durchschnitt weniger häufig und weniger gern, wollten sich aber auch auskennen. In der Pornografie werde die Sexualität jedoch zu sehr auf den Lustaspekt der Männer reduziert.
Das sieht auch die britische Unternehmerin Cindy Gallop so, die schon 2009 auf einer TED-Konferenz ihre sexuellen Erfahrungen mit jungen Männern und ihre daraus resultierenden Forderungen auf den Punkt brachte. Hardcore-Porno- grafie sei heute de facto das neue Ausbildungsmaterial, wenn es um Sexualität geht. Sie suggeriere Allgemeingültigkeit, habe jedoch nicht zwangsläufig etwas mit der Realität zu tun. Allerdings sei es Eltern zu peinlich, um mit ihren Kindern über das Thema zu sprechen, und die Bildungsinstitutionen hätten zu viel Angst davor, nicht politisch korrekt zu sein, um das Thema aufzunehmen. Es brauche Umerziehung, Rehabilitation und Neuorientierung. Gallop forderte: „Make love, not porn!“ (http://blog.ted.com/cindy_gal- lop_ma/).
Die Folgen des Pornokonsums sind laut Psychologin Freitag vielschichtig und betreffen auch die Partnerinnen. Süchtige Konsumenten zeigten oft nur wenig oder kein sexuelles Interesse mehr an ihrer Partnerin, verglichen diese mit den Pornostars oder verlangten schmerzhafte Praktiken. „Manche Frauen werden darunter depressiv, andere werden die belas- tenden Bilder von brutalem Sex nicht mehr los, die sie am Bildschirm gesehen haben.“ Mädchen setzten sich demütigen- den Sex-Praktiken aus, weil sie glaubten, das sei normal oder der Partner würde sich sonst eine andere suchen. Nicht wenige auch schon junge Männer berichteten von partieller Impotenz. „Auf der Suche nach dem immer härteren Porno- Kick reichen die Reize der eigenen Freundin oder Frau irgendwann nicht mehr aus“, so Eberhard Freitag. Manche gingen dann auch zu Prostituierten. Und fliege dies oder heimlicher Pornokonsum in einer Partnerschaft auf, sei die Beziehung häufig wegen zerstörten Vertrauens vom Scheitern bedroht.
Nicht jeder, der Pornos konsumiere, werde aber auch süchtig, so Eberhard Freitag. Entscheidend seien etwa das Ein- stiegsalter, ein hohes Reizbedürfnis, eine geringe Impulskontrolle oder auch eine narzisstische Neigung. „Doch manchmal ist nicht ganz klar, was zuerst da war: die Henne oder das Ei.“ Pornosucht sei jedenfalls nicht schichtabhängig – unter den Betroffenen seien Handwerker, Beamte oder auch Manager. Jugendliche suchten kaum Hilfe – sie verspürten meist noch keinen Leidensdruck. „Die Männer kommen oft erst, wenn ihre Beziehung in Gefahr ist“, so Freitag. Da es keine öffentliche Debatte gebe, sei sich kaum einer der Gefahren und des Suchtpotentials bewusst.
Eine Therapie sei jedoch geeignet, sowohl die Pornosucht zu besiegen als auch belastende Bilder sexueller Gewalt aus dem Kopf zu bekommen. Eine bewährte Methode aus der Traumatherapie sei etwa die „Überblendtechnik“. Wichtig bei einer Sucht sei der komplette Verzicht auf Pornografie. Es handele sich um klassisches Suchtverhalten mit sämtlichen anerkannten Kriterien wie Kontrollverlust, Dosis- Steigerung, Entzugssymptomen (wie etwa „unbändigem Verlangen“) sowie das billigende In-Kauf-Nehmen von negativen Konsequenzen. Bei Return treffen sich regelmäßig cleane Männer in einer Gruppe. Meist seien sie anfangs peinlich berührt, wenn sie ihren Leidensgenossen begegnen, dann aber froh, mit ihrem Problem nicht allein zu sein. Auch eine Partnerinnen-Gruppe existiert.
Damit Kinder und Jugendliche gar nicht erst Pornografie konsumieren oder sie zumindest richtig einordnen können, sei es wichtig, rechtzeitig mit ihnen zu sprechen. „Auch die Verfügbarkeit des Internets muss dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein“, so Eberhard Freitag. So sollten Software-Filter zum Schutz vor verstörenden Bildern auf deren Rechner installiert werden. „Die Eltern müssen sich klarmachen, dass ein Smartphone kein Telefon ist, sondern ein kleiner Computer, der alles kann“, so Freitag. Und: „Ein Kind wird nicht gleich zum Außenseiter, nur weil es in der 5. Klasse kein Smartphone hat.“ Es sei wichtig, die Verantwortung der Eltern zu stärken bzw. sie ihnen überhaupt bewusst zu machen. Freitag: „In einer guten Beziehung kann man es aushalten, wenn einen die Kinder auch mal ätzend finden.“ Ein großes Dilemma ist laut Tabea Freitag, dass viele Kinder – auch über die Smartphones anderer Kinder – schon früh unkontrollierten Zugang zum Internet haben. „So müssen Eltern bereits in einem Alter mit Kindern über Pornografie sprechen, in dem diese eigentlich noch gar nichts damit zu tun haben wollen.“
„Durch den Pornokonsum verpassen die Jugendlichen ihre eigene, persönliche sexuelle Entdeckungsreise“, so Tabea Freitag. Sie möchte die Jugendlichen sprachfähig machen – auf eine wertschätzende und gesichtswahrende Weise. Würde und Selbstbestimmung sind ihr wichtig. Die meisten Jugendlichen wünschten sich eine dauerhafte Partnerschaft. In ihrem an Pädagogen gerichteten Präventions-Fachbuch zeigt sie auf, was die Jugendlichen jetzt schon dafür tun können. Wichtig seien positive Bilder von Liebe und Sexualität, die Stärkung der eigenen Intuition oder auch das Wertschät- zen des Schamgefühls.
Pornografie fördere dagegen eine konsumorientierte Sexualität ohne Empathie, Bindung und Verantwortung. Es sei zwar illusorisch, Pornografie zu verbannen, doch es sei wichtig, Dinge geradezurücken und zu hinterfragen.
Die Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation e.V. warnt in einem Memorandum von 2015 davor, Pornografie zu verharmlosen und weist darauf hin, dass ein erheblicher Teil der frei zugänglichen Internet-Pornografie mit Erniedri- gung, Gewalt und brutalen sexuellen Misshandlungen verbunden sei. Folge seien nicht nur schwerste körperliche und psychische Verletzungen und Traumatisierungen bei den Pornodarstellerinnen. Es entstehe auch ein dominanzgeprägtes Lustschema, das schwer in Beziehungen zu integrieren sei, die auf Vertrauen, Intimität und Respekt beruhen. Auch Kinder übten aufgrund des Pornografiekonsums mitunter sexuelle Gewalt auf jüngere aus (weitere Informationen im Internet unter www.dgtd.de).
In einer Arbeit vom Juni 2012 gab sich die Sozialwissenschaftlerin Esther Stahl dagegen gelassen: „Studien geben alles in allem Entwarnung ob der Befürchtung, es wachse eine ,verrohte Generation‘ heran.“ Dennoch solle die Internetpornografie nicht bagatellisiert werden. Es sei davon auszugehen, dass Pornografie eine ambivalente Wirkung auf Jugendliche habe. Diese sei auch abhängig von nichtsexuellen Erfahrungen in der Kindheit. Auch Professor Peer Briken, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätskrankenhaus Eppendorf, glaubt nicht an eine allgemeine sexuelle Verwahrlosung Jugendlicher. In einem Interview im Hamburg-Teil der ZEIT vom 10. März sagte er: „Auch wenn die meisten Jugendlichen schon früher im Internet Pornofilme anschauen, haben sie gute Kompetenzen zu unterscheiden, was problematisch ist und was nicht, was ihnen irreal oder geschmacklos erscheint, und was sie deswegen einfach wegklicken.“
http://www.eppendorfer.de/fileadmin/user_upload/EPPmai2016.pdf