Holger Karkheck in: Bild am Sonntag 10. Januar 2016
20 Prozent der Teenager schauen täglich Pornos. Einige werden süchtig. So wie Martin Kröger, der seit Jahren abhängig ist. Hier erzählt er, wie die Sexfilme fast sein Leben zerstörten. Die Droge von Martin Kröger hat wenig mit Stoff zu tun. Oder besser: Sie hat mit wenig Stoff zu tun. Martin Kröger ist pornosüchtig. Die Lust auf Lustfilme hätte fast das Leben des Endvierzigers zerstört.
Experten schätzen, dass zwischen drei und acht Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind. Pornosucht ist eine Mediensucht, so wie Leute auch nach Computerspielen süchtig sind. „Es hat nicht viel gefehlt und meine Ehe wäre den Bach runtergegangen“, sagt Kröger, der eigentlich anders heißt und irgendwo in Norddeutschland lebt.
Immer wieder erwischt ihn seine Frau, wenn er sich im Internet tummelt und sich Pornos anschaut. Dann zwingt sie ihn, sich Hilfe zu holen. Seit eineinhalb Jahren ist Martin Kröger in Therapie bei der Mediensuchtberatungsstelle Return in Hannover. Dort sitzt der drahtige, freundliche Mann an diesem Abend in Jeans und Turnschuhen und will erzählen. Wie alles begann, damals als Jugendlicher. Und wie er am Ende immer mehr Erotikfilme schaut, weil es mit der Pornosucht ist wie mit allen Süchten: Man muss die Dosis steigern, sonst kommt der Kick nicht mehr.
Auf Droge ist Kröger seit der Pubertät. „Es fing an mit Pornoheften.“ Aber die hätten sich alle seine Freunde angeguckt, und so habe er sich in den ersten Jahren keine Gedanken gemacht. Natürlich wird nicht jeder Jugendliche, der sich ein Pornoheft besorgt, gleich süchtig. Aber seit im Internet jederzeit und gratis Hardcore-Filme abrufbar sind, ist die Suchtgefahr groß.
Zwei Drittel aller Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren gucken mindestens einmal in der Woche Pornofilme, schätzen Experten. Nach einer Studie tun das 20 Prozent täglich. Zu den meistgeklickten Seiten im Internet gehören die von YouPorn oder PornHub. Ein junger Deutscher hat die Plattformen 2006 gegründet. Werbespruch: „All you need is hand“. Alles, was du brauchst, ist eine Hand. Allein PornHub besuchen 60 Millionen Menschen. Pro Tag!
Früher mussten Männer, die Sex vor der Kamera sehen wollten, in Videokabinen gehen. Vor sich Fernseher, neben sich Taschentücher. Heute setzen sie sich einfach vor den heimischen Rechner. Anwälte, Kaufleute, Ärzte, Handwerker. Alles gestandene Männer (Frauen sind von der Pornosucht nur selten betroffen). Auch Kröger führt nach außen ein konservatives Leben. Sex vor der Ehe kommt für ihn nicht infrage. Mit Anfang 20 heiratet er Sabine. Zunächst läuft es gut, die Krögers sind ein bodenständiges Paar. Martin betreibt einen erfolgreichen Handwerksbetrieb, seine Frau arbeitet im sozialen Bereich. Die beiden bekommen drei Kinder. Alles sieht nach heiler Welt aus. Von Martins Sucht ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand etwas.
Er geht in Videotheken, in die Abteilung hinterm Vorhang, wo der Zutritt erst ab 18 Jahren gestattet ist und die Blockbuster „Verdammt dicke Titten“ und „Geile Omas – sie sind alt und brauchen das Geld“ heißen. „Aber da hatte ich Angst, dass ich mal irgendwen treffe, den ich kenne“, sagt Kröger. Erst das Internet „öffnet die Türen“, wie er es ausdrückt. Kröger treibt sich auf allen möglichen Seiten herum. Pornovideos, Pornobilder. Auf dem Rechner zu Hause im Dachgeschoss, auf dem Smartphone unterwegs in der Mittagspause in seinem Handwerkerauto. „Ein, zwei Stunden sind da schnell weg“, sagt Kröger. Und das jeden Tag.
Nicht immer befriedigt er sich dabei. „Andere Menschen gehen morgens an den Rechner und gucken, ob sie neue Mails haben.“ Er geht an den Rechner und guckt, ob es Neues von „seinen“ Frauen gibt. Mit manchen hat er so etwas wie eine Beziehung. Eine sehr einseitige, weil er die Frauen, deren Fotos oder Videos er anschaut, nie persönlich trifft. „Aber ich hatte durchaus Lieblingsfrauen.“ Dass die Namen, die sie sich im Internet geben, kaum ihre echten Namen sind, ist Kröger natürlich bewusst. Und es ist ihm egal. Pornosüchtige stumpfen zunehmend ab. Viele sind, so sagen es Krögers Therapeuten, irgendwann nicht mehr wirklich bindungsfähig.
So ergeht es auch dem Handwerker. Er zieht sich zurück in seine eigene Welt. Bei Familienfeiern fragen ihn Verwandte, warum er so still und zurückgezogen sei. Kröger zuckt dann mit den Schultern, was soll er auch sagen? Rauchen, Alkohol, Haschisch. Über alles könnte man reden. Aber Pornos?
Seinen Job bekommt der Handwerker bis zum Schluss auf die Reihe. Ansonsten läuft nichts mehr. Das Sexualleben mit seiner eigenen Frau schläft komplett ein. Die beiden übernachten in getrennten Zimmern.
Wieder und wieder versucht Kröger, von seiner Droge loszukommen. Er verlegt die Kaffeemaschine aus seinem Büro im Dachgeschoss ins Erdgeschoss. „Wenn ich einen Porno anschauen wollte, habe ich mir dann einen Kaffee geholt. Der Weg ins Erdgeschoss hat schon gereicht, um mich davon abzuhalten.“ Immer wieder ist Kröger für ein paar Wochen „clean“. Dann kommt eine Stresssituation und alle guten Vorsätze sind dahin. Im Sommer 2014 sagt seine Frau: „Entweder suchst du dir Hilfe, oder ich trenne mich von dir.“
Seitdem ist Kröger Klient bei der Mediensuchtberatungsstelle Return, einer Einrichtung der Diakonie. Seit 2008 werden dort Pornosüchtige betreut. Im ersten Jahr kommen fünf, im Jahr 2015 zehnmal so viele. Leiter der Einrichtung ist der Diplom-Pädagoge Eberhard Freitag (49). Er sagt: „Wenn du Pornos guckst, setzt dein Gehirn Stoffe frei, durch die du dich berauscht und geil fühlst. Irgendwann ist dein Hirn zu faul, sich diese Stoffe über echte Erlebnisse und Beziehungen zu holen. So kann eine Pornosucht entstehen.“
Freitag und seine Kollegen bieten Gesprächsgruppen für Betroffene und Angehörige. Wer will, bekommt zusätzlich ganz praktische Hilfe. Techniker installieren dann auf den Computern und Smartphones der Betroffenen spezielle Software, die Pornoseiten sperrt. Martin Kröger bekommt in der ersten Phase seiner Behandlung Einzelsitzungen. Inzwischen nimmt er nur noch an Gruppengesprächen teil, er hat seine Sucht im Griff. Es ist nicht ganz einfach, weil schon eine Frau im Minirock auf der Straße seine Fantasie anregt und die Gefahr besteht, dass er sich wieder vor den Rechner setzt. Es ist ein wenig wie beim trockenen Alkoholiker: Wer wieder etwas trinkt, ist sofort wieder drauf auf Droge.
Kröger ist zum Glück stabil. Die Therapie sei sehr hilfreich, sagt er. Heute würden sich seine Freunde wieder gern mit ihm treffen, er könne sich wieder besser öffnen. Auch gegenüber seiner Frau: „In diesem Sommer haben wir eine Reise gemacht.“ Ohne die Kinder, ohne Freunde, nur Martin und Sabine. „In diesem Urlaub haben wir uns noch einmal neu verliebt“, sagt Martin Kröger.
So funktioniert die Therapie für Pornosüchtige
Pornosucht ist kein gesellschaftliches Randphänomen. „Sie trifft Handwerker genauso wie Informatiker oder erfolgreiche Führungskräfte“, sagt Eberhard Freitag.
Der Pädagoge leitet seit 2008 die Return-Fachstelle Mediensucht in Hannover. „Es gibt kein öffentliches Bewusstsein, dass wir hier ein Suchtproblem haben. Das wollen wir ändern.“ Im ersten Jahr kamen fünf Personen, in diesem Jahr sind es rund 50. Die Betroffenen seien ausschließlich Männer, gewöhnlich zwischen 30 und 60 Jahre alt. „Es kommen aber auch manchmal bereits 18-Jährige zu uns. Der Antrieb ist oft, dass die Partnerschaft in Gefahr ist.“
Bis zu zwei Jahre dauert die Therapie. „Während dieser Zeit kommen die Betroffenen etwa alle zwei bis drei Wochen zum Einzelgespräch zu uns.“ Neben Gesprächen bietet Return auch ganz pragmatische Hilfe an: „Wir haben einen Techniker, der bei den Süchtigen einschlägige Seiten auf dem Computer sperrt“, sagt Freitag.
Neben bzw. nach der Einzeltherapie bietet Return Gruppensitzungen an. Nicht nur für betroffene Männer, neuerdings auch für deren Partnerinnen. Außerdem hat Return ein Präventionsprogramm für Schulen entwickelt. „Pornosucht beginnt in der Regel in der Jugend“, sagt Freitag. Lehrern steht als Unterrichtsmaterial das Präventionsbuch „Fit for Love? – eine bindungsorientierte Sexualpädagogik“ zur Verfügung.
Neben der Internet-Sexsucht beraten die Mitarbeiter von Return auch bei allen anderen Formen problematischen Medienkonsums. Trotz der stark steigenden Nachfrage nach Prävention und Beratung soll die öffentliche Förderung durch die Stadt Hannover ab 2016 eingestellt werden. Weitere Infos: www.return-mediensucht.de