Tabea Freitag in: Psychiatrie & Neurologie 05/2012neurologie-und-psychiatrie logo

Das Internet ist eine grossartige Erfindung. Allerdings birgt es einige Risiken und Gefahren. Neben der Suchtgefahr werden Kinder und Jugendliche mit Inhalten im Internet konfrontiert, die ausserhalb ihres Beurteilungsvermögens liegen. Problematisch ist insbesondere das medial vermittelte Bild von Sexualität, das in der Regel losgelöst ist von Beziehung und Verantwortung.
Der Einfluss von Internetpornografie betrifft im Wesentlichen drei Wirkungsbereiche:
● eine potenzielle Abhängigkeitsentwicklung
● die Toleranz gegenüber sexueller Gewalt
● eine beeinträchtigte partnerschaftliche Intimität, das heisst einen negativen Einfluss auf die Empathie- und Bindungsfähigkeit.
Längsschnittstudien zeigen, dass Jugendliche pornografische Inhalte für umso realistischer halten, je öfter sie Pornografie im Internet sehen. Sie trennen Sexualität zunehmend von ihrer emotionalen und Beziehungsdimension und halten Promiskuität für normal. Ein häufiger Konsum führt zu einer drastischen Werteverschiebung hinsichtlich Sexualität und Frauenbild. Frauen werden in der Folge zunehmend als Sexobjekt wahrgenommen.
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass das Abhängigkeitspotenzial von Onlinesexangeboten als besonders hoch einzuschätzen ist (u.a. Längsschnittstu- die von Meerkerk et al. 2006). Dabei scheint sowohl die unmittelbare neurobiologische Belohnungswirkung als auch die Breite und Vielfältigkeit der gefühlsregulierenden Wirkung eine wichtige Rolle zu spielen.
Wir erleben in Beratung und Therapie bei nicht wenigen Klienten das klassische Vollbild einer Suchterkrankung mit Entzugssymptomatik, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und massiven negativen Konsequenzen, wie zum Beispiel Zerbrechen der Partnerschaft infolge der Sucht.
Nach Kimberley Young, einer international anerkannten Pionierin auf dem Gebiet der Internetsucht, ist Internet- sexsucht die häufigste Form einer problematischen Internetnutzung. In Deutschland gibt es bis heute keine Studie zur Prävalenz der Internetsexsucht. Laut einer schwedischen Studie wiesen 6 Prozent aller Internetnutzerinnen und -nutzer einen süchtigen Konsum von Sexangeboten auf (Daneback, Ross und Mansson, 2006, n = 1835).

Besonderheiten in der Therapie
In der Behandlung von Menschen mit exzessivem oder süchtigem Konsum von Internetpornografie bestehen im Vergleich zu anderen Süchten einige Besonderheiten, die für die Therapie wesentlich sind. Dazu gehören:
● die Entfremdung und der Intimitätsverlust in der Partnerschaft
● die Gewöhnung an eine einseitige narzisstische Bedürfnisbefriedigung
● die kognitiv-emotionale Verwirrung durch die Illusionen und widersprüchlichen Botschaften der pornografischen Versprechungen
● die Macht der inneren («eingebrannten») Bilder, die häufig Rückfälle auslösen.
Die Therapie muss neben allgemeinen suchttherapeutischen Massnahmen vor allem auch bei diesen besonderen Charakteristika ansetzen. So werden Rückfälle auf der Gedankenebene primär über das auch nach der Abstinenz vom Pornokonsum noch lange fortbestehende Kopfkino ausgelöst. Denn Fantasien, geprägt von «eingebrannten» Bildern, sind fester Bestandteil des Suchtrituals. In der Therapie arbeiten wir unter anderem an der Veränderung und Bewältigung dieser inneren Bilder. Statt des passiven Sich-überwältigen-Lassens von extrem intensiven Bilderfolgen ohne Bezug zu eigenen sinnhaften Erfahrungen ist es wichtig, aktiv die ganz eigenen Lebensziele, Sehnsüchte und Prioritäten zu entdecken und zu visualisieren. Das ist ein spannender Prozess, wenn die oft jahrelang verschütteten eigentlichen Wünsche, Begabungen und leidenschaftliche Ziele wieder lebendig werden.
Durch die häufig in früher Pubertät durch Pornografie begonnene Sexualisierung der Gefühls-, Gedanken- und Fantasiewelt haben sich viele Betroffene von sich selbst wie auch von anderen entfremdet. Manche müssen die Fähigkeit zur Empathie und zu echter Intimität neu lernen. Wir haben unser integratives Behandlungskonzept der Onlinesexsucht daher folgendermassen genannt: «Von der Entfremdung zur Entdeckung der Wirklichkeit». Denn darum geht es im Therapieprozess ganz wesentlich: die Wirklichkeit der eigenen Identität, authentischer Beziehungen und echter Intimität zu finden und die ganz eigene Leidenschaft im Leben zu entdecken. Während kurzfristig Strategien wie bei- spielsweise Suchtinventar, Kosten-Nutzen-Analyse und Veränderung der PC-Nutzungsgewohnheiten, inklusive Einbau von Filtersoftware (Stimuluskontrolle), hilfreich sind, spielt längerfristig die Veränderung von Selbsttäuschungen eine entscheidende Rolle. Dafür ist ein grundlegendes Verständnis der durch langfristigen Pornografiekonsum verinnerlichten Botschaften beziehungsweise Illusionen und von deren Wirkungen unerlässlich.

https://www.rosenfluh.ch/psychiatrie-neurologie-2012-05