Interview mit Annegret Czernotta in: neurologie-und-psychiatrie logo
Psychiatrie & Neurologie 05/2012

Konsumieren Mädchen und Jungen pornografische Inhalte über das Internet im gleichen Masse? Oder konsumieren primär sozial benachteiligte Gruppen? Ein Interview mit der Diplompsychologin Tabea Freitag.

Psychiatrie & Neurologie: Welche Auswirkungen hat der häufige Konsum von Pornografie auf Jugendliche?
Tabea Freitag: Ein häufiger Konsum geht mit grösserer Toleranz gegenüber sexueller Gewalt und Neigung zu sexueller Devianz einher. Männliche Jugendliche mit täglichem Pornografiekonsum, in Schweden sind das immerhin 10,5 Prozent der Jugendlichen, konsumieren fast sechsmal so häufig auch Kinderpornografie, haben ein deutlich höheres Bedürfnis, das Gesehene auch real auszuprobieren, und sind dreimal so häufig Täter von sexuellem Missbrauch wie seltenere Konsumenten (Svedin et al. 2011; Priebe et al. 2007; n = 4026). Wenn man sich dann vor Augen hält, dass der Anteil täglicher Konsumenten durch den immer früheren Zugang zum Internet ständig steigt, bereits 2008 waren es in Deutschland 20,6 Prozent der 16- bis 19-jährigen Jungen (Pastötter, Pryce und Drey, 2008), müsste das alarmieren. Dabei ist ein häufiger Konsum kein Phänomen sozial benachteiligter Gruppen, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Normalisierungsprozess.

Konsumieren auch Mädchen pornografische Inhalte?
Tabea Freitag: Mädchen konsumieren deutlich seltener Pornografie, nur 1,4 Prozent tun das täglich, aber immerhin 10 Prozent wöchentlich mit steigender Tendenz. Die meisten empfinden zunächst Ekel und Abwehr, manche gleichzeitig Erregung, was ein Gefühl von Verwirrung und Verunsicherung hinterlässt. Viele sehen pornografische Filme, um sich über Praktiken und Normen zu informieren und mithalten zu können. Wir erleben in Präventionsveranstaltungen, unter welchem enormem Schönheits- und Leistungsdruck Mädchen stehen, um den pornonormierten Erwartungenzu entsprechen. Die drastische Zunahme der Nachfrage nach Schönheitsoperationen der Genitalien, der Intimchirurgie, seit der durch pornografische Vorbilder eingeführten Intimrasur, spricht eine deutliche Sprache. Nach der Onlinebefragung von Pastötter, Pryce und Drey (2008) glaubt ein erschreckend hoher Anteil von Frauen, ihr Partner erwarte, dass ihre Vagina aussehen sollte wie bei einer Portodarstellerin.

Hat der Konsum Einfluss auf die Einstellung bezüglich Frauenbilder?
Tabea Freitag: Betroffene berichten immer wieder, dass sich durch den häufigen Konsum ihre Gefühls- und Gedankenwelt sexualisiert hat und sich ihre Wahrnehmung von Mädchen und Frauen verändert. Sowohl experimentelle Studien als auch Längsschnittstudien zeigen, dass Pornografiekonsum die Wahrnehmung von Frauen als Sexobjekte fördert und zudem eine zunehmende Akzeptanz des Vergewaltigungsmythos zur Folge hat, das heisst die Vorstellung, Frauen wollten letztlich zum Sex gezwungen werden. Bezogen auf die eigene Partnerschaft, führt Pornografiekonsum zu einer Abwertung der Attraktivität der Partnerin.

Welche Auswirkungen hat der Konsum auf die eigene Sexualität, und gibt es altersabhängige Entwicklungen?
Tabea Freitag:
Je früher Kinder und Jugendliche in ihrer Fantasie durch pornografische Vorbilder geprägt werden, desto stärker ist der anzunehmende Einfluss, denn sie können die intensiven, einprägsamen Bilder nicht durch eigene Erfahrungen relativieren. Wenn Jugendliche Sexualität als eindimensionale Erregungssuche und jederzeit verfügbare Instantbefriedigung kennenlernen, bevor sie die vielschichtigen Facetten von Liebe und Sexualität selbst entdeckt und erlebt haben, wird ihnen diese eigene Entdeckungsreise gestohlen. Die vorgefertigten Schablonen schieben sich zwischen die Partner und vor die eigenen Erfahrungen, was eine ganz individuelle, kreative und intime, für beide erfüllende Sexualität erschwert. Die Gewöhnung an Sexualität als einseitige narzisstische Bedürfnisbefriedigung, die jederzeit sofort verfügbar ist und maximale Kontrolle ermöglicht, indem per Mausklick über Alter, Ethnie, Körpermasse und Praktiken verfügt wird, fördert natürlich nicht die Fähigkeit, auf die Gefühle und Bedürfnisse eines anderen einzugehen und Spannung auszuhalten.
Eine vielfach nachgewiesene geringere sexuelle Zufriedenheit bei Pornokonsumenten wird sowohl auf den Vergleich mit pornografischen Idealen als auch auf die beeinträchtigte Fähigkeit zur Intimität zurückgeführt.

Wann nehmen die Betroffenen Hilfe in Anspruch?
Tabea Freitag:
Betroffene nehmen aufgrund der hohen Schamschwelle häufig erst dann Hilfe in Anspruch, wenn ihre Partnerschaft an der Onlinesexsucht zu zerbrechen droht oder wenn sie selbst oder andere merken, dass sich die Inhalte in ihrer Härte, Gewalt oder Devianz derart gesteigert haben, dass sie sich vor sich selber ekeln oder sich strafbar machen. Darum ist es zunächst wichtig, dass ein öffentliches Bewusstsein für das Abhängigkeitspotenzial entsteht, Ärzte und Therapeuten für das Thema sensibilisiert sind und Hilfsangebote geschaffen werden. Genauso wichtig ist es, dass wir Betroffenen Brücken bauen, damit sie den ersten Schritt wagen und um Unterstützung ersuchen. Auch sollte die sexualbezogene Internetnutzung im Hinblick auf eine mögliche Abhängigkeitsentwicklung wie auch der Auswirkungen auf Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungsfähigkeit anamnestisch in der Beratung und Therapie Jugendlicher und Erwachsener ebenso selbstverständlich erhoben werden wie exzessives PC-Spiel und Alkohol- oder Drogenkonsum.

Kann man den Konsum von Pornografie bei Jugendlichen und Kindern überhaupt verhindern?
Tabea Freitag:
Die Prävention fängt mit der Frage nach der freien Zugänglichkeit jugendgefährdender Inhalte an. Je früher Kinder freien Zugang zum Internet haben, zum Beispiel durch internetfähige Handys, desto früher geraten sie an pornografische Inhalte – meist ohne Wissen der Eltern. Die Links erhalten sie häufig von Mitschülern. Es reicht auch nicht aus, ihnen zu sagen, das sei alles nicht realistisch, denn die stark erregenden Bilder «brennen» sich durch den starken Dopamin- und Opiatkick dennoch ins Gedächtnis ein. Wo wir Pornografie im Rahmen von Präventionsveranstaltungen thematisieren, zeigt sich, dass Jugendliche eine grosse Offenheit bis hin zu Erleichterung zeigen, wenn sie über den Einfluss von Pornografie auf ihr Frauen- und Männerbild, ihre Vorstellungen von Sexualität, die oft widersprüchlichen Gefühle und ihre mit ihrem Konsum divergierenden Sehnsüchte nach Liebe und Partnerschaft reden können.

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind Pornos konsumiert?
Tabea Freitag:
Es ist entscheidend, ihnen nicht moralisierend, sondern mit einem Verständnis für die Macht und Faszination der Bilder zu begegnen. Gleichzeitig ist es wichtig, sie darin zu bestärken, ihre gesunde Intuition – das ist etwas Intimes, darum löst es anfangs Scham und das Gefühl, etwas Voyeuristisches zu tun, aus – wahr- und ernst zu nehmen und ihnen zu verdeutlichen, dass Pornografie sie ihrer eigenen, ganz individuellen Entdeckungsreise von Liebe und Sexualität in einer späteren Partnerschaft beraubt. Gegenüber dem pornografischen Skript, das Sexualität auf eindimensionale Triebbefriedigung reduziert – Sex als Sport, als Trieb, als rein körperlicher Akt, als Konsum –, können Jugendliche für die auch emotionale und Beziehungsdimension der Sexualität sensibilisiert werden, indem man über ihre langfristigen Beziehungsziele und wünsche ins Gespräch kommt und diese mit den Botschaften der Pornografie in Beziehung setzt. Wir erstellen derzeit Präventionsmaterial für Multiplikatoren wie Lehrer oder Jugendmitarbeiter, in denen bewährte Tools beschrieben und mit Powerpoints und Filmclips visualisiert werden, um Jugendliche gegenüber den Auswirkungen von Pornografie zu sensibilisieren und ihnen ein positives und ganzheitliches Verständnis von Sexualität in ihrer körperlichen, emotionalen und Beziehungsdimension zu vermitteln.

https://www.rosenfluh.ch/psychiatrie-neurologie-2012-05