1. Einleitung

Die Menschheitsgeschichte ist nicht denkbar ohne den technischen Fortschritt, der dem Einzelnen – aber auch der Gesellschaft insgesamt – zum Nutzen dienen kann und ihn zugleich immer auch vor neue Herausforderungen stellt. Gemessen an den früheren technischen Neuerungen selbst der industriellen „Revolution“ stellt das Computerzeitalter eine besondere Herausforderung dar, weil es einbruchartig Einzug gehalten hat, weltumspannend und zeitgleich in allen Kulturen, ohne dass eine allmähliche, angemessene Adaptation möglich gewesen wäre.

Das www vernetzt die Welt und durchdringt unser aller Leben bis weit hinein in die Privatsphäre. Es verändert Lebensinhalte und -rhythmen, schafft neue Formen und Ebenen der Kommunikation, modifiziert innere und äußere Welten. Das Ausmaß sowohl der Chancen als auch der Risiken übersteigt das Vorstellbare. Die Kluft zwischen dem, was einerseits technisch machbar und andererseits aber auch ethisch vertretbar ist, vergrößert sich ständig.

Für die nachwachsende Generation resultiert daraus, dass das Maß an Verfügbarkeit elektronischer Medien und deren Inhalte vielfach in keiner Weise dem Maß an bereits erreichter Persönlichkeitsreife entspricht. Eltern stehen dieser Kluft und der daraus entstehenden Dynamik oftmals hilflos gegenüber.

Technischer Fortschritt ist nach Ansicht des Reformpädagogen Hartmut von Hentig immer nur dann echter Fortschritt, wenn er auch verstanden, verantwortet und beherrscht wird. Den „Fortschritt“ im Bezug auf die Nutzung des Computers, bzw. des Internets auch im Hinblick auf die nächste Generation verantwortlich zu gestalten, ist eine vitale gesellschaftliche Aufgabe.

2. Problembeschreibung

Die Wahrnehmungsmöglichkeiten, die das Internet bietet, übersteigen die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit um ein Vielfaches. Diese wiederum übersteigen unsere konkrete Handlungsfähigkeit. Die Handlungsfähigkeit des Einzelnen, d.h. die eigenverantwortliche und konstruktive Gestaltung und Weiterentwicklung des eigenen Lebens wird durch die Flut attraktiver Wahrnehmungsmöglichkeiten im www gefährdet.

An dem Punkt eines potentiellen Hinauswachsens des Menschen über sich selbst und seine begrenzten Möglichkeiten setzt die Faszination „PC“ ein: Hochkomplexe Online-Spielewelten, ein unüberschaubares Angebot von pornografischen Bildern und Filmen, Kommunikationsplattformen, der Konsum unendlicher Mengen von Informationen im Netz bieten Erlebniswelten, die hochgradig attraktiv sind. Viele Menschen werden in den Bann gezogen, denn die Online-Welt bedient Wünsche und Sehnsüchte, ermöglicht die Gefühlsregulation und vermag die Nutzer in einen verführerischen Zustand zu versetzen, in dem sich Raum und Zeit auflösen, sich die reale von der virtuellen Welt abkoppelt.

Aber auch die Grenzen klarer ethischer Verantwortlichkeit zwischen Anbietern und Nutzern verwischen, die Möglichkeiten der Kontrolle bleiben weit hinter dem zurück, was erforderlich wäre. Besonders Jugendliche können verleitet werden, auf diese Weise aus der realen Welt mit ihren vielfältigen Herausforderungen, Problemen, Kränkungen und Verunsicherungen auszusteigen und entwicklungspsychologisch bedeutsame Reifungsschritte zu umgehen. Gefördert wird eine solche Entwicklung insbesonders dort, wo es an stabilen, Halt gebenden Bindungen und bedeutsamen Erwachsenenvorbildern mangelt, wo Autorität verlagert wird – weg von realen Menschenvorbildern hin zum Medium, welches dann die Führung übernimmt. Hier werden Kinder und Jugendliche vielfach alleine gelassen, während oft gleichzeitig bei Eltern Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit entstehen.

Wer sich dem Sog der Online-Welten nicht entziehen kann, kann in eine Falle geraten, in der die virtuelle Existenz zunehmend ein Eigenleben führt und zum beherrschenden Faktor wird mit der Folge, dass das Leben mit seinen Herausforderungen und Möglichkeiten vernachlässigt wird. Wo die Balance kippt, entwickelt sich im Extremfall eine Abhängigkeit. Neuere Studien zeigen, daß es sich bei diesen Phänomenen nicht um Einzelfälle handelt, sondern daß eine relevante Zahl Jugendlicher, bzw. auch Erwachsener betroffen ist.

Unabhängig von der Abhängigkeitsgefährdung werden Jugendliche mit einer Fülle von Inhalten im Netz konfrontiert, die außerhalb ihrer Beurteilungs- und Kontrollmöglichkeiten liegen und dadurch einer sozial-ethischen Desorientierung Vorschub leisten können. Besonders problematisiert werden muß in diesem Zusammenhang das via Internet massenhaft vermittelte destruktive Bild einer Sexualität ohne Beziehungszusammenhang.

3. Grundhaltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Wenn die Chancen, die das Computerzeitalter für die heutige, aber auch für künftige Generationen mit sich bringt, sinnvoll genutzt werden sollen, bedarf es angesichts der Beurteilung der Risiken, die diese Umwälzung mit sich bringt, einer klaren Werte- und Beziehungsorientierung.

Diese Orientierung gewinnen wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachstelle von einem christlich geprägten Menschenbild her. Die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Medieninhalten, die suchtpräventiven Ansätze und die Beratungs- bzw. Therapiearbeit werden von dieser Basis aus entwickelt und gestaltet. Wir gehen davon aus, daß die Durchführung von Maßnahmen zur Medienbildung ohne eigene klare und begründete Wertmaßstäbe nicht überzeugend gelingen kann.

Konkret bedeutet dies weiter für den Umgang mit von Medienabhängigkeiten Betroffenen und deren Angehörigen, daß wir mit einer stark von Hoffnung und Wertschätzung geprägten Haltung unsere Beratungs- und Therapiearbeit versuchen zu versehen.

Unsere langjährigen Erfahrungen als MitarbeiterInnen in der Suchthilfe haben uns gezeigt, dass Freiheit von Sucht in dem Maße gelingen kann, wie der süchtig gewordene Mensch in neue konstruktive, wertschätzende und verläßliche Beziehungen hineinwächst und so seinen Platz in der Gemeinschaft findet. Im Bezug auf Menschen, die sich im Strudel virtueller Welten verloren haben, gilt dies gleichermaßen.

Für einen konstruktiven fachlichen Diskurs bedarf es zusätzlich aber auch die Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. die Ergebnisse der Suchtforschung und der Wirkungsforschung bzgl. des Konsums von Internetpornografie oder auch gewaltverherrlichender PC-Spiele. An diesem fachlichen Diskurs werden wir uns als Fachstelle auch in Zukunft weiter beteiligen und unsere Überzeugungen und Erfahrungen einbringen.

Hannover, Stand 08 / 2013