Tabea Freitag in: Fachzeitschrift Grüner Kreis “Wege aus der Sucht” Herbst 2017 logo_grüner Kreis

 

Warum Pornos süchtig machen und was wir präventiv tun können

Pornografie – Sex als Konsumgut – hat sich seit der digitalen Wende einerseits als massenmedial verbreitetes »normales Genussmittel« etabliert, dessen weitgehend unkritische Akzeptanz sich mit dem Feigenblatt progressiver Aufgeklärtheit umgibt. Andererseits verbergen sich hinter diesem Feigenblatt Formen der Entmenschlichung der Sexualität und der Gewalt und Entwürdigung von Menschen, die in einer aufgeklärten Gesellschaft nur durch ein doppeltes Tabu möglich sind: das Tabu des Schweigens und der Anonymität und das Tabu durch Normalisierung und Normierung. So prägt das Mainstreaming pornotypischer Praktiken zunehmend erwachsene wie auch jugendliche Beziehungen, wie zahlreiche Studien belegen. Nach Analysen der meistgefragten Pornofilme u. a. durch Bridges et al. zeigen 90 % der Mainstream-Pornografie männliche Dominanz verbunden mit Demütigung und Gewalt an Frauen (Schlagen, Würgen, sadistische Praktiken u. v. m.). Dem Konsumenten ist dabei häufig nicht bewusst, dass ein großer Teil der pornografischen »Schlachthofästhetik

« (Pastötter) nicht freiwillig, sondern im Dunkelfeld der modernen Sklaverei entstanden ist. Man geht davon aus, dass 60 bis 80 % der inzwischen auf 45,8 Millionen geschätzten Opfer moderner Sklaverei sexuell ausgebeutet wer- den, wobei die Grenzen zwischen Zwangsprostitution und Pornografie durch die digitale Technik fließend geworden sind. Pornografiekonsum befeuert wiederum die Nachfrage nach verfügbaren Frauen, an denen die zuvor gesehenen brutalen Akte praktiziert werden können. Die Forschergruppe um Wright stellte 2014 fest, dass die demütigenden und gewalthaltigen Praktiken nicht nur gesehen, sondern in einem hohen Ausmaß auch nachfolgend in die Tat umgesetzt werden, wobei das Praktizieren aller pornotypischen Praktiken in signifikantem Zusammenhang mit einem häufigen Pornokonsum der befragten Männer steht. Zahlreiche experimentelle u. a. Studien belegen, dass ein regelmäßiger Pornografiekonsum die Akzeptanz von sexueller Gewalt erhöht wie auch die Bereitschaft , diese in die Tat umzusetzen.

Pornostandards prägen jedoch auch die Beziehungen Jugendlicher bzw. zunächst ihre Wunschliste. In der Präventionsarbeit sagen die Jungen meinem Kollegen, unter »gutem Sex« verstünden sie, wenn sie Oral, Anal u. v. m. bekommen. Viele Mädchen wissen, was von ihnen (zukünftig) erwartet wird. Selbstbewusste Gymnasiastinnen sagten mir: »Ja, wenn wir das nicht mitmachen, sind wir doch selber schuld, wenn er sich ’ne andere sucht.« In ihrem Dilemma zwischen Bindungswunsch und Identitätsgefühl (alleine bleiben oder mitmachen, obwohl es nicht stimmig ist?) lassen sich viele im Wissen um die Normalisierung von pornografischen Standards auf unstimmigen, schmerzhaften Sex ein. Sie haben Angst, in Aussehen und sexueller Performance nicht zu genügen und schließlich verlassen zu werden »für eine andere, die mehr zu bieten hat«. Den meisten Mädchen ist bewusst, dass fast alle Jungen Pornos konsumieren, und viele haben sich auch selbst schon dort umgeschaut. Nach einer Befragung in Zürich haben 91 % der 13- bis 16-jährigen Jungen und 44 % der Mädchen schon Pornografie im Internet gesehen. Fast die Hälfte der 16- bis 19-jährigen Jungen (47 % gegenüber 3 % der Mädchen) gaben 2010 an, fast täglich oder täglich pornografische Filme anzusehen. Einer größeren Onlinebefragung zufolge konsumierten bereits 2008, d. h. vor dem mobilen Internet, 20,6 % der männli- chen 16- bis 19-jährigen Jugendlichen täglich Pornografie, zwei Drittel mindestens wöchentlich. Bei den Erwachsenen war die Konsumhäufigkeit vergleichbar hoch. Mädchen und Frauen schauen deutlich seltener Pornos, lassen sich aber häufiger auf erotische Chats und in der Folge auf reale Begegnungen ein.

Je häufiger Jugendliche Pornografie konsumieren, desto eher halten sie das Gesehene für realistisch und umso mehr dringen pornografische Standards ein in die realen Beziehungen. So haben Erfahrungen mit Analsex bei den 18-bis 29-Jährigen in wenigen Jahren drastisch zugenommen, obwohl fast alle Mädchen und ca. 70 % der Frauen dies als sehr schmerzhaft erleben.

Längsschnittstudien zeigen: Je häufiger Jugendliche Pornografie konsumieren, desto exzessiver beschäftigen sie sich auch gedanklich mit sexuellen Phantasien, d. h. das pornografische Kopfkino geht auch offline weiter. Das verändert die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Häufiger Konsum geht mit der vermehrten Wahrnehmung von Mädchen als Sexobjekt einher und mit ihrer Abwertung, einem negativen Frauenbild und, in logischer Konsequenz, denn Sexobjekte sind austauschbar, mit einer positiven Einstellung zu One-Night- Stands und Promiskuität.

Zudem können die exzessive Beschäftigung mit sexueller Stimulation und die Suche danach im Internet in ein Suchtverhalten münden. Das hohe Suchtpotenzial von Internetsexangeboten wurde in zahlreichen Studien bestätigt. Studien zur Prävalenz der Internetsexsucht divergieren zwischen 1 und 8,3 % der Bevölkerung, eine Varianz, die auch dem Fehlen einheitlicher Kriterien dieser Verhaltenssucht geschuldet ist.

In der Behandlung sehen wir klassische Merkmale einer Abhängigkeitserkrankung wie Entzugssymptome, Toleranzentwicklung, Kontrollverlust und Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen wie dem Zerbrechen der Partnerschaft. Um die entstehende Sucht nach dem gesteigerten Kick zu befriedigen, suchen Betroffene vielfach zunehmend härtere Inhalte oder interaktive Formen des Cybersex mit Übergängen zu realen Affären. Jederzeit verfügbar, schnell, anonym und überwiegend kostenlos, kann Pornografiekonsum verbunden mit Masturbation dank seiner intensiven neurobiologischen Belohnungswirkung und seiner gefühlsre- gulierenden Wirkung als ideale Selbstmedikation gegen Gefühle von Frust, Langeweile oder Einsamkeit fungieren.

Pornografie ist in der Lage, eine Vielzahl von Bedürfnissen anzusprechen: Sowohl Stimulanzbedürfnisse nach Neuheit, Abenteuer, Risiko und Grenzerfahrungen werden angesprochen als auch das Bedürfnis nach Entspannung und Bewältigung von Unruhe- oder Spannungszuständen. Pornografie kann sowohl Bindungswünsche bedienen – die Illusion (Trugbild) von Intimität, Zuwendung, Bestätigung oder Fürsorge – als auch den Wunsch nach Autonomie, Macht und Kontrolle. Gleichzeitig wird die reale Befriedigung dieser Bedürfnisse gerade erschwert. So ist Pornografie als anonyme, entper- sonalisierte Form von Sexualität das Gegenteil von Intimität und beschädigt diese durch den einsamen und meist heimlichen Konsum.

Konsumsex bedient den perfekten narzisstischen Traum: In Pornotopia bekommst du alles, was du willst – sofort, jederzeit und ohne Anstrengung. Pornos lehren: Mir steht alles zu. Ich muss nichts investieren. Nur meine Befriedigung zählt! Der Konsument hat maximale Kontrolle, kann mit einem Klick über Alter, Ethnie, Oberweite und Praktiken entscheiden, ohne sich selbst emotional einlassen oder kommunizieren zu müssen. Diese narzisstische Anspruchshaltung überträgt sich nicht selten auf die Partnerschaft und zerrüttet die sexuelle Intimität. »Es ist, wie wenn er eine Schablone auf mich legt und sein Phantasiekino an mir abspult. Ich bin gar nicht gemeint«, drückte eine Frau den Schmerz vieler Partnerinnen aus. In vielen Fällen erlischt das sexuelle Interesse an der Partnerin, die mit den intensiven digitalen Stimulanzien nicht mithalten kann.

Neben dieser Entfremdung von eigenen Gefühlen und denen der Partnerin oder des Partners spielt die Ambivalenz und Verwirrung der Intuition eine wichtige Rolle, die Gleichzeitigkeit verwirrender Botschaften (s. o. anonyme Intimität etc.) mit Faszination und Erregung: »Das ist eklig und brutal, aber es macht mich doch an«, »Das ist menschenverachtend und ich muss es mir doch wieder und wieder reinziehen«, erzählen uns Betroffene immer wieder. Diese Ambivalenz, die die Scham und Sprachlosigkeit aufrechterhält, erleben schon Kinder und Jugendliche, die damit meistens alleine bleiben.

In der Präventionsarbeit erleben wir, dass Jugendliche sich in ihren ambivalenten Gefühlen zu Pornografie und in ihren Fragen zu Liebe, Sexualität und Beziehungen Orientierung wünschen. In Gesprächen mit Jugendlichen ist entscheidend, nicht moralisierend aufzuklären, sondern mit einem Verständnis für die Macht und Faszination der Bilder über Risiken und Nebenwirkungen des Pornokonsums zu informieren und sie darin zu bestärken, ihre eigene Intuition und gesunde Grenzen wahrzunehmen und ernst zu nehmen und sich ihre ganz individuelle Entdeckungsreise von Liebe und Sexualität nicht stehlen zu lassen.

Fit for Love?, eine bindungsorientierte Sexualpädagogik für Multiplikatoren zur Prävention von Pornografiekonsum, unterstützt Teenager darin, Liebe und Sexualität in ihrem Sinnzusammenhang und ihren Herausforderungen (u. a. der Spannung zwischen Bindung und Autonomie) zu verstehen. Die Ziele von Fit for Love? sind:

– Vermittlung eines positiven Verständ- nisses von Sexualität in ihrer körper lichen, psychischen und Beziehungs- dimension

– Förderung der Empathie- und Liebesfähigkeit

– Sensibilisierung für die Folgen von Pornografiekonsum

– Prävention von süchtigen Konsummustern

– Prävention in Bezug auf sexuelle Gewalt

»Bildung« bedeutet sprachgeschichtlich, einer Sache »Gestalt und Wesen geben«. Im Zentrum des Praxisbuches »Fit for Love?« stehen daher Bilder und Symbole, die etwas von dem Wesen und der Bedeutung von Liebe und Sexualität vermitteln, u. a. dem inneren Zusammenhang von Freiheit und sicherer Bindung, Spaß und Verantwortung (Fallschirmsprung), von Leidenschaft (Lagerfeuer oder Flächenbrand), dem Wesen eines Suchtverhaltens (Angelhaken, Gollums Märchen u. a.) und der Fähigkeit, Spannung auszuhalten (Bogenschießen), um eigene Ziele bzw. Beziehungswünsche zu erreichen. Mädchen spricht besonders das Bild des inneren Gartens an, ein Bild für die Identität – wer bin ich, was gehört zu mir, was will in mir aufblühen? – als Voraussetzung für Intimität: ein Raum der Vertrautheit und Lebendigkeit, den Liebende miteinander mit allen Sinnen genießen. »Wie wir lieben, zeigt letztlich, wer wir sind.« (R. Rohr)

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